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Raymond Verheijens Periodisierungskonzept

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Raymond Verheijen sorgt auf Twitter für Aufsehen durch sehr scharfe Kritik an zahlreichen Trainern. Teilweise gilt Verheijen dadurch als unseriös – doch hinter dieser PR-Maske verbirgt sich ein genialer Kopf. Ein Blick auf sein Periodisierungskonzept anhand seines neuen Buchs „The Original Guide To Football Periodisation. Always play with your strongest team. Part 1“ zeigt dies.

Sprache als Schlüsselaspekt und die „Action theory“ [1]

Verheijens Konzept beginnt schon bei der Sprache, die im Fußball genutzt wird. Externe Sprache, die nicht aus dem Fußball selbst kommt, muss in eine verständliche und klare Sprache für den Fußball übersetzt werden.

Ziel ist neben einer einheitlichen Terminologie und vereinfachten Diskussion sowie klarerer Kritik auch der inhaltliche Aspekt.

Die Idee dahinter ist die „Action Theory“: Damit ist gemeint, dass nur die Relation und der Kontext einer Bewegung die Bewegung überhaupt relevant macht. Ein Sprint ohne Ball und ohne taktische Situation ist nur ein Sprint und hat nichts mit Fußball zu tun, weswegen solche Sprints in diesem Konzept nicht / kaum vorkommen.

Sämtliche Bewegungen müssen „Aktionen“ sein und sich somit entsprechend dieser Definition in einem taktischen Kontext des Spielsports Fußball wiederfinden.  Diese Aktionen erhalten dann eigene Worte – Beispiele hierfür sind u.a. „verschieben“, „ballorientiert verteidigen“, „kompakt spielen“, welche sofort Aufschluss über die grundlegende Bewegung des Kollektives geben. „Nichtkontextuelle Wörter“ wie „mehr kämpfen“, „aggressiver sein“, „Teamchemie“, etc. sollen absolut vermieden sein.

Bei einem Stürmer wird dann das Problem im Abschluss nicht mehr auf interpretierte Probleme zurückgeführt, sondern auf einen Mangel an Können in dieser Situation; unabhängig vom Mangel selbst. Durch eine extrem spiel- und situationsorientierte Trainingsphilosophie werden immer sämtliche möglichen Mängel im Training gleichzeitig adressiert, um die Gesamtheit an Möglichkeiten zu trainieren. In diesem Fall erhält der Stürmer also keinen Psychologen, sondern ein Training seines Abschlusses in einem taktischen Kontext.

„Sag, was du siehst!“ – Raymond Verheijens Coachingtipp

Die „Action theory“ bedeutet somit auch, dass die Kategorisierung in mentale, körperliche oder sonstige Aspekte obsolet wird; stattdessen wird die Aktion beschrieben und die Aktion als solche ganzheitlich verbessert. Eine Kategorisierung in mehr Anteile sorgt implizit für eine Segregation des Trainings, wodurch die Komplexität und womöglich der Trainingseffekt selbst verloren gehen.

Kategorisierungen gibt es trotzdem, diese müssen aber objektiv und klar sein. Einige Kategorisierungen nehmen sogar Schlüsselrollen ein.

Die Kategorisierung und Hierarchisierung von Fußballaktionen [2]

Grundsätzlich besteht jede einzelne Aktion im Fußball nach Verheijen aus den vier Aspekten „Kommunikation“, „Game Insight“ (oder auch Entscheidungsfindung), „Technik“ und „Fußball Fitness“. Durch ihre Abfolge in jeder Aktion entsteht auch diese Reihenfolge, obwohl sie sich immer wechselseitig beeinflussen. Die ersten beiden Aspekte sind prinzipiell psychologisch-taktisch, der dritte ist die Ausführung selbst in technisch-motorischer Hinsicht und der vierte ist die Physis.

“Kommunikation” bedeutet die kollektive Kommunikation und die Wechselwirkung mit der individuellen. Soll heißen: Man wird gepresst; der Gegner kommuniziert mit einem (wie läuft er an, wie will er pressen, etc.), die Mitspieler ebenfalls (freilaufen oder nicht, wo bieten sie sich wie an, usw.) – basierend darauf und auf der Spielphilosophie des Teams kommt die “Game Insight”, also die Entscheidungsfindung. Daraufhin folgt Technik als Faktor der Exekution der Entscheidung.

Ähnlich wie bei Guardiola (sh. Perarnau-Buch) ist die Taktik nach dieser Definition das Umsetzen einer gemeinsam erlernten Sprache, innerhalb welcher kommuniziert wird; je besser die Spieler sich kennen, umso besser ist ihre Kommunikation, insbesondere non-verbaler Natur.

Orientierung an den abgeleiteten Spielphasen und der Zusammenhang mit der Fußballfitness [3]

Ein weiteres Beispiel für eine Kategorisierung ist die Aufteilung in „Ballbesitz“, „gegnerischer Ballbesitz“ und „offensiver“ bzw. „defensiver Umschaltmoment“; innerhalb dieser Aufteilungen gibt es dann kontextuelle Wörter für Aktionen, die exklusiv in diesen Kategorien existieren.  Jegliches Training muss sich an diesen kontextuellen Wörtern für diese Aktionen orientieren, diese Aktionen auf eine von vier unterschiedlichen Arten verbessern wollen und jede Trainingsübung gehört als zu einer der drei beziehungsweise vier Spielphasen.

„The biggest problem in football, with respect to fitness, is the exercises. Fitness is trained as something separate to football.”

Die „Fußballfitness“ nutzt eine komplett eigene Einteilung. Zwar werden beispielsweise aerobe und anaerobe Ausdauer weiterhin als wissenschaftliches Fundament genutzt und im Buch findet sich auch ein Kapitel zu wissenschaftlichen Hintergründen, aber in der „Fußballersprache“ (beziehungsweise „football action language“) teilt sich die „Fußballfitness“ in vier relevante Kategorien:

  • Bessere Aktionen (Explosivität und Qualität der Aktionen)
  • Umsetzung von mehr Aktionen (gemeint sind mehr Aktionen in einem bestimmten Zeitintervall, also die Frequenz oder Intensität der Aktionen)
  • Aufrechterhaltung guter Aktionen (weniger Erschöpfung über die Spieldauer, Aufrechterhaltung der Explosivität und Qualität)
  • Aufrechterhaltung vieler Aktionen (Ausdauer im weitesten Sinne, Aufrechterhaltung der Intensität)

Fußballaktionen gehören also zu bestimmten Strategien innerhalb von „eigener Ballbesitz/Angriff“, „gegnerischer Ballbesitz/Defensive“ und „Umschaltspiel“ (offensiv und defensiv) und bestehen dann innerhalb spezieller dazu passender Übungen aus den physischen Komponenten „bessere Aktionen“, „mehr Aktionen“, „bessere Aktionen aufrechterhalten“ und „mehr Aktionen aufrechterhalten“. Diese werden wiederum je nach Mikrozyklus, Trainingsphase und Zustand der Spieler sowie Ziele der Spielweise periodisiert.

Die „football conditioning exercises“ [4] trainieren diese vier Aspekte auf eine bestimmte Art und Weise. Eine Sache ist aber grundsätzlich gegeben: Jede Übung muss die Prinzipien des Spiels, ganzheitliche Aufstellungen und konkrete Situationen (inkl. Gegnerpräsenz, Ballbezug, etc.) abbilden. Die vier „Football Fitness“-Aspekte werden dann durch bestimmte Aspekte gesondert trainiert; hauptsächlich funktioniert dies über die Spielerzahl in den Spielformen und durch die Feldgröße sowie die Dauer der einzelnen Übungen.

1-vs.-1 und 2-vs.-2  als Spielformen sind „Intensive Intervalle“ für maximal explosive Aktionen und „Fußballsprints“, 3-vs.-3 und 4-vs.-4 sind „extensive Intervalle“, 5-vs.-5, 6-vs.-6 und 7-vs.-7 sind „intensive Ausdauer“ und von 8-vs.-8 aufwärts sind „extensive Ausdauer“. [5]  Die Kategorisierungen sind übrigens nicht willkürlich, sondern basieren auf der Anzahl der Aktionen pro Spieler; der jeweilige Abfall von einer Kategorie auf die andere wird auch taktisch erklärt.

 “For example, first you do a certain exercise on a certain pitch size, and then you make the pitch size smaller, and then smaller. The same exercise but less space, less time, increasing the demands, and that is how you improve players.” – Raymond Verheijen

Desweiteren führt Verheijen aus, dass bei einer Sportart wie Fußball Sauerstoff nicht als Lieferant für die Aktionen dient, weil die Aktionen zu kurzlebig und explosiv sind, sondern für die Erholung zwischen Aktionen; ergo muss man diese Erholung gezielt trainieren, wobei Dauerläufe hierbei nicht zielführend sind. Gemäß dieser Definition und der football-action-language werden auch die Läufe kategorisiert. So ist ein Sprint kein reiner Sprint, sondern ein „Football Sprint“, wo die Positionierung der Aktion, der Moment der Aktion, die Geschwindigkeit selbst und die Richtung der Aktion variabel sind.

„For sprinters, sprinting is the objective. In football the sprint is not an objective itself, but always just a means to realize a football intention. (…) This book introduces the term football sprint. This means that football players always sprint in a football context, in which by definition, the football resistance is present (such as the ball, the opponents, etc.).”

Sonstiges

  • Neben der Periodisierung von Saisonverläufen sowie den einzelnen Trainingswochen darin periodisiert Verheijen auch die Art der Übungen selbst; so gibt es „extensive und intensive“ Variationen von vielen Übungen, ob Pass-, Taktik- oder Ballbesitzübungen. Diese unterschiedlichen Übungskategorien besitzen also je nach genauer Ausführung – Spieleranzahl, Feldgröße, etc. – unterschiedliche Fitnesscharakteristika.
  • Bei Angst vor Übertraining werden weiterhin die gleichen Übungen gemacht, aber in geringerer Intensität mithilfe eines „Underload model” für quasi-Regenerationstrainings.
  • Nach der „Spezifitätsregel“ ist alles im Training fußballspezifisch und spielbezogen.
  • Das „Gesetz der Nachhaltigkeit“ ist ausgerichtet gegen Übertraining in der Aufbauphase, es wird ein langsamerer Aufbau von Fitness mit Qualität statt Quantität propagiert; sogar in der Vorbereitung also. Die Logik dahinter ist klar: Der Körper ist hier nicht mehr so fit und trainingsgewöhnt, darum kommen weniger intensive Sessions zur Anwendung und es gibt einen generellen Fokus auf das Erhöhen der aktuellen Intensität auf eine Leistungsdauer von 90min, danach erhöht der Trainer die Intensität im 90min-Kontext anhand der vier Kategorien; „long-term-fitness“ soll entstehen. Wichtig sind hier auch die Folgeeffekte wie beispielsweise langfristigere Fitness bei Verletzungen, etc.
  • Was Verheijen als „functional technique“ beschreibt, ist im Endeffekt Grundlage für die differentielle Lernmethode:

„Technique is the execution of the decision. (…) For this reason, it is not recommended to isolate technique from football and to teach players to move body parts in a certain way when passing and controlling for example, without the context of the game. Football players must have varying ways of executing a technique instead of having just one ideal typical way to perform a technique. Football players must learn to be able to pass and receive a ball in 101 different ways. This is also called a functional technique.“

Fazit

Vor einigen Monaten haben wir auf Spielverlagerung schon ausführlich unterschiedliche Periodisierungskonzepte besprochen. Raymond Verheijens Ansatz in seiner Periodisierungtheorie ist womöglich sogar der ganzheitlichste und extremste von all diesen und gleichzeitig auch der fußballspezifischste. Zwar kann man ihm den Mangel an einer Betrachtung beziehungsweise Simplifizierung psychologischer Aspekte und einen passiv-aggressiven Schreibstil vorwerfen, die fachliche Kompetenz ist aber unbestritten. Nicht umsonst arbeitete Verheijen für Barcelona, Gaal, Hiddink, Rijkaard, City sowie Argentinien und stellte mit Russland, der Niederlande und Australien bei Großturnieren jeweils Bestleistungen in puncto Laufleistung auf.

“Everything has to be football-related“ – Raymond Verheijen

Sein Wissen um die menschliche Physis, die fußballspezifische Kategorisierung dieses Wissens und die kompetente Umsetzung in ein ganzheitlich-differenzielles Konzept inklusive implizitem Lernen innerhalb eines intelligenten taktischen Kontexts wissen zu gefallen. Auch die generelle Periodisierung der Trainingsübungen und die Beispiele für mögliche Trainingswochen im Profi- und Amateurbereich beeindrucken.

Die treffende Beobachtung über einzelne Charakteristika des Fußballs und des menschlichen Körpers – wie zum Beispiel die besondere Rolle des Sauerstoffs, Fußball als Intensitätssport mit vielen physiologisch unterbewussten Abläufen sowie seine Multidimensionalität in der körperlichen Beanspruchung – führen zum Konzept der „Fußballfitness“ und einer „langsamen Periodisierung“, in der die Individualität in der Workload und der Grundsatz „Qualität statt Quantität“ über alles geht.

Weiterführende Links:

Verheijens Fußballfitness wird übrigens auch im kommenden Buch von Marco Henseling und mir eine Rolle spielen, welches einen eigenen Periodisierungsansatz mit vielen Aspekten aus der Wissenschaft, eigenen Erkenntnissen, fremden Periodisierungsansätzen und auch aus anderen Sportarten übernimmt. Ein Verlag ist bereits in Aussicht.

 

[1] Verheijen, R. (2014): The Original Guide To Football Periodisation. Always play with your strongest team. Part 1. Seite 17-30. Amsterdam. World Football Academy BV.

[2] Verheijen, R. (2014): The Original Guide To Football Periodisation. Always play with your strongest team. Part 1. Seite 30-39. Amsterdam. World Football Academy BV.

[3] Verheijen, R. (2014): The Original Guide To Football Periodisation. Always play with your strongest team. Part 1. Seite 47-55. Amsterdam. World Football Academy BV.

[4] Verheijen, R. (2014): The Original Guide To Football Periodisation. Always play with your strongest team. Part 1. Seite 55-75. Amsterdam. World Football Academy BV.

[5] Verheijen, R. (2014): The Original Guide To Football Periodisation. Always play with your strongest team. Part 1. Seite 93-116. Amsterdam. World Football Academy BV.


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