Das Thema Statistikanalyse im Fußball wird immer größer, wichtiger und relevanter. Sogar viele Medien haben sich bereits damit auseinandergesetzt; manche positiv, manche negativ. Bisher galten der FC Brentford und der FC Midtjylland als Vorreiter dieser Bewegung. Das erstreckt sich nicht nur auf die reine Datenanalyse. Auch viele andere Bereiche wurden und werden modernisiert und mit Innovationen versehen. Darunter: Standards.
RM, selbst ein Jahr lang dort aktiv, hat sich mit einem seiner früheren Arbeitskollegen zusammengesetzt und ein Interview gemacht.
Hallo Nikos. Könntest du dich für unsere Leser vorstellen?
Clik here to view.

Nikos Overheul. Experte für Standards und Spielerscouting.
Ich bin Nikos Overheul und habe bei Brentford und dem FC Midtjylland als Teil ihres Analysteams gearbeitet. Meine Verantwortlichkeitsbereiche waren die Verpflichtung neuer Spieler – also das Spielerscouting – und Standardsituationen. Bei Letzterem ging es vorrangig um Forschung und Analyse, teilweise durch Daten, primär aber durch Stunden und Stunden von Videoanalyse. Ich habe mir diese Saison mehr Standards angesehen, als irgendeine Person machen sollte! Dazu habe ich natürlich mit den Trainern Gianni Vio (Brentford) und Brian Priske (Midtjylland) zusammengearbeitet, welche für die Standards zuständig sind.
Desweiteren bin ich Redakteur bei Catenaccio: Das niederländische Spielverlagerung.
Das klingt überaus interessant. Auf Spielverlagerung fokussieren wir uns meist stärker auf das Spiel außerhalb der Unterbrechungen. Bisher gab es nur wenige Analysen zu Standards (sh. hier zu Einwürfen und hier zu den Defensivstandards des BVB 13/14). Was hast du bei deiner Recherche zu Standardsituationen herausgefunden?
Persönlich glaube ich, dass Standardsituationen im Fußball unterschätzt sind. In diesem Aspekt starke Mannschaften sind meistens Abstiegskandidaten, welche Standards nutzen, um noch den Klassenerhalt zu nutzen. Viele sehen Standards als einen „billigen Trick“ zum Sieg. Viele reden über Standards, als wären sie weniger wert als Tore aus dem Spiel heraus. Das kommt vermutlich wegen der Verbindung zu schwächeren Mannschaften.
Denkst du dies liegt daran, dass diese tabellarisch schwächeren Teams besonders kreativ in puncto Standards sein müssen, um überhaupt eine Chance zu haben?
Klar. Wenn man sich nicht auf Talent verlassen kann, müssen die Tore von woanders kommen!
Gibt es besondere Beispiele für solche Trainer oder Teams?
Am meisten mit Standards verbunden sind in England die Trainer Tony Pulis und Sam Allardyce. In der Serie A war Hellas Verona abgeschlagener Letzter in der Tabelle diese Saison, aber erzielten mehr Tore nach Standards als alle anderen Mannschaften. In der Bundesliga ist Darmstadt das klar beste Team nach Standardsituationen. Ohne diese würden sie mit relativ hoher Sicherheit absteigen. Normalerweise gilt es also wie erwähnt als eine Waffe der Außenseiter, der Kleinen, die auf diesem Wege mangelnde Fähigkeiten kompensieren.
Spitzenmannschaften machen das also nicht oder kaum?
In den letzten Jahren haben einige sehr gute Mannschaften begonnen Standards hochwertig zu nutzen und holten sogar Titel damit. Eigentlich sind Standards für dominante Mannschaften sogar mehr wert als für schwache Mannschaften. Training erhöht die Wahrscheinlichkeit für ein Tor nach einem Standard. Und je mehr Standards man erhält – es gibt eine hohe Korrelation mit dem Ballbesitz –, desto größer ist der Vorteil.
Atlético Madrid ist das vielleicht beste Beispiel dafür. Ecken und Freistöße waren ein großer Teil ihres Angriffssystems in 2013/14. Passenderweise erzielten sie das Ausgleichstor zum Titelgewinn in dieser Saison nach einer Ecke durch Diego Godin!
Clik here to view.

Godin trifft gegen Barcelona. Eine Woche später erzielt er auch ein Tor im CL-Finale. Hier wird für ihn geblockt, er kommt aus dem Rückraum mit einem Lauf in Richtung Ball zum Kopfball.
In Analystenkreisen ist der Titelgewinn Manchester Uniteds unter Sir Alex Ferguson ein großes Mysterium. Sie gewannen die Liga, obwohl die zugrundeliegenden statistischen Werte schwach waren und die Mannschaft suboptimal. Teil ihres Titelgewinns ist durch ihre enorm starken Ecken zu erklären. So erzielte Patrice Evra vier Tore in der Liga in dieser Saison, alle nach Ecken. In den anderen siebeneinhalb Jahren bei United erzielte er drei Tore in der Liga. Das ist enorm; vier Tore mehr als man normalerweise von einem Spieler erwarten kann.
Wobei ich das auf einer deutschen Webseite eigentlich nicht erwähnen müsste. Die deutsche Nationalmannschaft hatte bei der Weltmeisterschaft laut Löw einen großen Fokus auf den ruhenden Ball. Sie haben in 5 der 7 Spiele ein Tor nach einem Standard erzielt. Die Standards spielten auch eine große Rolle bei FC Midtjyllands erstem Titelsieg in der Vereinsgeschichte. In dieser Saison kamen in der EL-Gruppenphase vier der sechs Tore ebenfalls nach einem ruhenden Ball. Kleine Anekdote: Nach unserem Hinspiel gegen Manchester United „stahl“ Louis van Gaal einen unsere Freistöße für das FA-Cup-Spiel gegen Shrewsbury.
Was benötigt man denn für einen guten Standard?
Das Wichtigste ist das Training. Ich kenne mindestens ein CL-team, welches im Schnitt keine fünf Minuten pro Woche für Standards aufwendet. Mit einer so geringen Anzahl an Trainingseinheiten kann man nicht gut sein, das sollte klar sein.
Dass der Cheftrainer und die Spieler dies akzeptieren, ist ebenso entscheidend. Die Mannschaft muss daran glauben, dass Standards und das dazugehörige Training wichtig sind. Das kann man auf viele unterschiedliche Arten machen. Ein Beispiel: Vor dem ersten Standardtraining in dieser Saison sagte ein bekannter Trainer, dass er bei zwei gleich guten Spielern jenen vorziehen würde, der besser bei Standardsituationen ist.
Auf einer theoretischen Ebene muss natürlich jeder gute Standard die Qualitäten der Spieler und das Deckungssystem des Gegners miteinbeziehen. Das Ziel sollte es sein, ein Problem für den Gegner zu kreieren. Man entwickelt grundsätzliche Strategien je nach verfügbaren Spielern und passt die Ausführung an den jeweiligen Gegner an.
Clik here to view.

Atléticos Spiel mit den Sichtfeldern. Einige Spieler laufen Richtung Ball, werden von Gegnern verfolgt. Es öffnet Räume am zweiten Pfosten. Ein Spieler setzt sich im Rücken seines Gegenspielers ab. Er erhält eine Weiterleitung und trifft.
Es gibt hier natürlich keine eierlegende Wollmilchsau. So war Empoli letztes Jahr enorm erfolgreich mit Screens, also Blocks, um Räume zu kreieren. Damit opfert man in gewisser Weise Angriffsspieler, um eine Chance für einen bestimmten Spieler zu kreieren. Darum benötigt diese Strategie natürlich eine sehr präzise Hereingabe! Das funktioniert nur bei einem Spieler wie Mirko Valdifiori. Ansonsten würde ich dies nur wenigen Mannschaften empfehlen.
Es hilft natürlich auch, wenn man starke Kopfballspieler und einen guten Ausführenden hat, aber dennoch ist das Training enorm wichtig. Wenn ein Team enorm gute Standards treten kann, muss man diesen Effekt maximieren. Hakan Calhanoglu ist ein gutes Beispiel für einzigartiges Talent, welches von Leverkusen nicht optimal bei ruhenden Bällen genutzt wird.
Welche Alternativen gäbe es den außer dem Stellen von Blocks? Gibt es hier noch besondere Konzepte und Ideen, mit denen man Vorteile schaffen kann? Z.B. das Überladen bestimmter Zonen gegen Raumdeckungen?
Ja, es gibt viele unterschiedliche Konzepte diesbezüglich. Das Überladen von bestimmten Zonen ist eines davon. Atlético Madrid nutzt dies z.B. mit großem Erfolg.
Clik here to view.

Atlético überlädt tornahe Zonen.
Bist du der Einzige deines Faches? Oder hast du andere getroffen, die das machen?
Gianni Vio bei Brentford (ehemals Fiorentina und Milan u.a.) ist ein Spezialist für Standards, von ihm habe ich viel gelernt. Außerdem weiß ich, dass Montpellier einen Performance Analyst hat, der ausschließlich an Standards arbeitet. Ansonsten habe ich noch niemanden mit dieser expliziten Berufsbeschreibung getroffen.
Wie kommst du auf neue Ideen bzw. wie genau baust du neue Spielzüge für Standards?
Ich stehle sie! Wenn ich etwas Interessantes sehe, speichere ich sie sofort für künftige Nutzung. So hatte AZ Alkmaar letzte Saison eine sehr gute Eckenvariante, die sie seither nicht mehr nutzten. Diese ist nun in meinem Repertoire. Es gibt überall tolle Varianten zu finden. Ich habe gar eine von der nordkoreanischen Nationalmannschaft! Insgesamt muss man aber herausfinden, welche Mannschaften gut sind – das Bedienen von diesen Mannschaften ist dann fast immer eine gute Idee.
Clik here to view.

Atlético stellt auch oft eine Anspielstation für Kurzpässe ab. Geht ein Gegenspieler aggressiv mit, ist ein Gegenspieler weniger im Strafraum. Geht keiner mit, kann man zu einem 2-gegen-1, einer aufgelegten, tornäheren Flanke oder einem Durchbruch über die Seite ansetzen.
Welche Arten von Standards habt ihr analysiert und gebastelt? Nur Offensivfreistöße und –ecken oder auch Abstöße, Einwürfe? Auch gegen den Ball?
Abstöße nicht, diese gehören zu dem Trainer, der das Aufbauspiel abdeckt. Ansonsten in allem, wo man sich einen leichten Vorteil holen kann.
Wie wichtig ist die Gegneranalyse bei Standards und wie genau seid ihr da vorgegangen?
Oh, enorm wichtig. Jede Lösung, auf die man kommt, ist nur eine Lösung für ein einzelnes Spiel. Es geht immer um das Nutzen der Schwächen des Gegners. Was sind die Qualitäten des Teams, gegen welches man antritt? Ihr Deckungssystem? Wie reagieren sie auf bestimmte Bewegungen? Hier wird teilweise die statistische Analyse bedient, aber meistens basiert es auf Videoanalysen.
Clik here to view.

Eine Konsequenz von geringem Zustellen der Kurzpassoption: Atlético spielt flach heraus, dringt in den Halbraum ein, spielt flach in den Strafraum, Griezmann trifft.
Neben deiner Arbeit bei Standardsituationen hast du dich auch in der analytischen Abteilung im Spielerscouting beschäftigt. Wie kommuniziert man Statistiken, Datenanalysen zum Trainerstab und anderen?
Gar nicht! Wenn man mit Trainern über Daten redet, hat man vorher vermutlich etwas falsch gemacht. Man muss die Ideen in eine für alle verständliche Sprache übersetzen: Fußball. Man muss mit dem Trainerstab in einer Art und Weise kommunizieren, mit der sie sich verbunden fühlen. Wieso sollte der Trainer ein neues Vokabular erlernen, um zu hören, was du zu sagen hast?
Ansonsten reden Analysten auch kaum mit Spielern, außer bei alltäglichen Begebenheiten von Performance Analysts. Das ist aber eine ganz andere Arbeit. Taktische Ideen der Analyseabteilung müssen in Aktionen auf dem Spielfeld übersetzt werden. Am besten funktioniert dies ohnehin über Trainingsübungen – eine Form von Kommunikation.
Was ist wichtig beim Scouting und der Spielerauswahl und wie kann man dies spezifisch mit Daten kombinieren?
Es ist enorm wichtig ein klares Spielmodell zu haben und Spieler zu holen, welche bei der Ausführung dieses Spielstils helfen. Das ist natürlich ein konstanter Prozess. Jeder eingekaufte Spieler verändert die Dynamik der Mannschaft. Grundsätzlich sollte die Strategie identisch bleiben, die Taktik aber angepasst werden. Doch auch psychologische Faktoren darf man nicht unterschätzen.
Analysen können in vielen Wegen helfen. Es ist einfacher und günstiger viele Ligen auf einmal zu beobachten z.B. Man erhält verlässliche Informationen aus aller Welt. Man kann Spieler von Kolumbien bis Australien, von Japan bis Norwegen abdecken. Das ist mit einem Scouting ohne Daten kaum finanziell machbar, sogar für viele Mannschaften in der deutschen Bundesliga nicht.
Sofort erkennen zu können, ob ein Spieler schlecht ist, scheint nicht allzu nützlich zu sein, doch in der Praxis ist es das! Wir hatten Tage, wo wir 40 bis 50 Namen erhalten haben. Mit den Daten konnten wir schnell ansehen, was die Spieler geleistet hatten, und die schlechten Spieler filtern. Dadurch konnten wir jeden Spieler genauer mit Videoanalysen ansehen, wodurch wir den einen guten Spieler unter diesen 50, wenn es ihn gab, finden konnten.
Clik here to view.

Alternativ kann man auch eine andere Flanke auflegen, wenn kein Gegner kommt. Der Ball dreht sich nun anders in die Mitte und kommt mit einem anderen Winkel.
Wie wird sich deiner Meinung nach die statistische Analyse im Fußball in den nächsten Jahren entwickeln? Welche Sachen werden verstärkt in den Vordergrund treten? Welche neuen Entwicklungen wird es geben? In welchen Bereichen könnte man dies noch nutzen, exkl. des Spielerscoutings?
Es ist klar, dass die Analysen von Medien und Vereinen immer mehr eingebunden werden. Die vielen negativen Artikel über die Nutzung von Daten im Fußball ist ein klares Zeichen, dass es immer mehr Teil der Fußballlandschaft wird.
Außerdem gibt es zurzeit einen Fokus auf schussbasierte Metriken in öffentlichen Analysen. Diese tiefhängende Frucht wurde wohl schon von fast allen aufgelesen.
Ein großer Sprung bei den Analysen sollte kommen, wenn Trackingdaten verfügbar werden. Dasselbe geschah im Basketball mit den Analysen durch SportVU. Insbesondere die defensive Seite des Spiels sollte dann viel klarer werden. Desweiteren können Analysen genutzt werden, um herauszufinden, wie die eigene Mannschaft in den für den Verein relevanten Bereichen agiert. Ich weiß, dass Maurizio Sarri dies bei Napoli in dieser Art nutzt, ebenso wie wir bei Brentford und Midtjylland.
Clik here to view.

Aktivität und individuell adäquates Verhalten sind sehr wichtig. Hier wird geschickt ein Screen gesetzt, bei welchem die beiden Spieler gut interagieren. Sie drängen den Gegenspieler mit gutem Timing in den Block, ein Spieler kann dadurch frei werden. Auch das Timing mit dem Ausführenden der Ecke ist auf hohem Niveau.
Wen siehst du als wichtigsten Statistikanalysten im Fußball derzeit? Welche Vereine sind federführend, welche Personen relevant?
Arsenal hat bekanntlich StatDNA vor ein paar Jahren geholt. Die Leute, die dort arbeiten, sind sehr, sehr gut. StatDNA sind mitverantwortlich für Arsenals sehr gute Spielverpflichtungen und auch die Verantwortlichen, wieso Arsene Wenger in Pressekonferenzen über Expected Goals redet. Ich habe mit Ted Knutson und Marek Kwiatkowski gearbeitet, die ebenfalls auf sehr hohem Niveau sind. Ted hat z.B. sehr viele gute Ideen in vielen Bereichen des Fußballs, was sehr wertvoll ist. Die besten Analysten beschränken sich nicht auf die Statistik-/Datenanalyse, sondern haben ein sehr breites Wissensspektrum über den gesamten Sport.
Ansonsten weiß ich ehrlich gesagt wenig, was aber eher an meiner Ignoranz liegt, nicht am Mangel an guten Leuten.
AS Rom bewegt sich übrigens in puncto Spielerscouting und –verpflichtung verstärkt zu statistischen Analysen. Es gibt einige Mannschaften, die dies tun. Mehr und mehr Mannschaften aus der englischen Premier League holen sich zurzeit „technische Scouts“. Was dieser Job für Tätigkeitsfelder beinhaltet und wie viel Einfluss sie haben, ist allerdings unklar.
Einige französische Mannschaften scheinen ebenfalls Statistikanalysen im Scouting zu nutzen, was mir aufgrund ihrer Transfers auffiel. Allerdings kann man sich hier natürlich nicht 100%ig sicher sein.
Inwieweit wurde die Blogger-Szene (also StatsBomb, welche ja von Ted Knutson persönlich stammt, aber auch andere Blogs) beobachtet, um zusätzlich zu den professionellen Angeboten neue Möglichkeiten zu sondieren oder neue Konzepte zu finden?
Ja, das ist natürlich ein großer, wichtiger Punkt. Das Gute ist: Solche Blogs sind wie ein Portfolio. Man kann sofort sehen, wie diese Leute agieren und denken. Darunter gibt es einige, deren Arbeit ich sehr respektiere. Dustin Ward (@SaturdaysOnCouch) und Thom Lawrence (@deepXG) produzieren regelmäßig sehr interessante Werke.
Wir bedanken uns bei Nikos für das interessante Interview. Dieses wurde auf Englisch geführt. Falls ein Verein Nikos kontaktieren möchte, so geht dies über die Mail nikos@catenaccio.nl.
Image may be NSFW.
Clik here to view.