Spielverlagerung interviewte Coach Lars Lienhard von der Weddemann & Lienhard GbR – Focus-On-Performance, die Profisportlern ein Trainingskonzept anbietet, das auf den neurologischen Grundlagen des einzelnen Athleten basiert. Lienhard selbst war bereits unter anderem als externer Neuroathletikcoach mit dem DFB bei der letztjährigen Weltmeisterschaft in Brasilien.
Spielverlagerung: Wie unterscheidet sich euer Ansatz von anderen Trainingsmodellen?
Lars Lienhard: Nahezu alle Trainingskonzepte, die sich der Verbesserung von Bewegungen widmen, betrachten Bewegungen durch eine biomechanische Brille. Dabei werden nach der Trainingsintervention ständige Soll-Ist-Vergleiche angestellt, bis sich eine vermeintlich verbesserte Motorik einstellt. Das Gehirn und das Nervensystem als bewegungssteuernde Organe und die individuelle Bewegungsqualität spielen in diesen Konzepten leider kaum eine Rolle. Stattdessen wird von einem übergeordneten, personenunabhängigen Bewegungsideal ausgegangen. Aber Menschen sind keine Roboter, die alle demselben Leitbild entsprechen. Diesen Umstand haben wir zur Grundlage unserer Arbeit gemacht. Wir betrachten den individuellen und aktuellen Status quo des Menschen und versuchen, die neuronalen Hintergründe für den jeweiligen Ist-Zustand zu finden – eine Analyse, die so individuell ist, wie der menschliche Fingerabdruck.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Bevor wir mit einem Athleten arbeiten können, erfolgt zuerst eine umfassende Anamnese über den neuronalen und körperlichen Zustand inklusive einer genauen Analyse seiner Verletzungshistorie. Dabei wird eine umfangreiche Untersuchung des Sportlers durch einen Blick in seine neuronalen Hintergründe vorgenommen. Dafür nutzen wir visuelle, vestibuläre und propriozeptive Tests und als wichtigen Basistest eine Ganganalyse aus neuronaler Perspektive. Es werden also mehrere Bereiche betrachtet, um einen individuellen Status Quo des Athleten zu bekommen.
Warum ist das wichtig?
Durch die Anamnese wollen wir eine detaillierte Verletzungshistorie erstellen. Dies zeigt uns, wo das Training gegebenenfalls starten könnte. Hier können anhand der aufgetretenen Verletzungen Rückschlüsse über Gehirnaktivitätsstrukturen (über- oder unterrepräsentierter Areale) gezogen werden (z.B. sind fast alle Probleme auf einer Körperseite etc). Wir gehen der Frage nach der Entstehung der Verletzung nach: Sind die Verletzungen aus Bewegungen entstanden oder durch Fremdkontakt bzw. Gewalteinwirkung von außen? Sind die Verletzungen immer bei ähnlichen Bewegungssituationen entstanden, z.B. Augen rechts oder Drehung nach links? etc.
Die meisten chronischen Probleme, wie etwa ein Beckenschiefstand, haben sehr selten rein mechanische Ursachen, sondern einen neuronalen Hintergrund. Die Bewegung und Haltung des Menschen wird vom zentralen Nervensystem gesteuert, so auch, wenn etwas schiefgestellt wird. Die Ursachen für einen Beckenschiefstand müssen immer individuell in der Historie des Athleten gesucht werden und sind nicht per se durch orthopädische Tests diagnostizierbar. Wenn es zu einem Beckenschiefstand kommt, sind in den meisten Fällen alle bewegungssteuernden Systeme beteiligt. Liefert etwa eine Körperseite dem Gehirn mehr und präzisere Informationen als die andere oder liefert ein Auge beziehungsweise ein Teil des Gleichgewichtssystems deutlichere und präzisere Informationen als die übrigen, werden diese auch mehr benutzt. Die Folge davon: Der Körper „verdreht“ sich.
Der Schiefstand ist also abhängig von Aktivitätsmustern im Gehirn, die vom visuellen, vestibulären und dem propriozeptiven System bewirkt werden können. Das Gehirn versucht, den mangelhaften Input zu kompensieren. Diese Kompensationsstrukturen lassen sich zwar mechanisch als Schiefstand messen. Aber es geht vielmehr um die Software, die hinter der Biomechanik steht.

Lars Lienhard hier mit der mehrfachen Skeletonweltmeisterin Marion Thees | copyright: focus on performance
Was genau steckt hinter dem visuellen, vestibulären und propriozeptiven System?
Die Augen und das visuelle System sind für die menschliche Bewegung und die Sicherung des „Überlebens“ in der Umwelt die wohl wichtigsten Sinnesorgane. Wenn ich – im übertragenen Sinne – den Tiger nicht sehe, habe ich ein Problem. Zusammen mit dem vestibulären System – dem Gleichgewichtssinn – im Innenohr orientieren und bewegen wir uns im Raum. Das bedeutet, dass die Präzision, Zielgenauigkeit, Stabilität und Balance jeder Bewegung an diese Systeme gebunden ist und von ihnen somit stark beeinflusst werden. Sie beliefern besonders die zahlreichen Hirnareale, die an der Bewegungssteuerung beteiligt sind, mit Input. Unser Gehirn nimmt diese Informationen auf und analysiert sie, um dann den motorischen Output zu bestimmen.
Im visuellen System geht es nicht nur um „gutes Sehen“. Das Sehen speziell im Sport umfasst mit dem Tiefensehen, der Blickwechselgeschwindigkeit, der Nah-Fern-Fokus-Geschwindigkeit oder der peripheren Wahrnehmung sehr viele visuelle Fertigkeiten und findet nicht in den Augen, sondern im Gehirn statt. Sagt bei diesen Fertigkeiten z.B. ein Auge dem Gehirn etwas anderes als das andere, wird unsere Leistungsfähigkeit direkt eingeschränkt.
Das Vestibulär-System sagt uns – grob vereinfacht –, wo oben ist und wie wir uns im Raum bewegen. Dieses Gleichgewichtsorgan kontrolliert also in erster Linie die Bewegung im Raum. Quasi alle Bewegungen des Menschen stehen mit diesem Organ in Wechselwirkung und werden wiederum von der Qualität der Signale beeinflusst. Neuronal sind die Augen und die Gleichgewichtsorgane extrem eng mit der posturalen Kontrolle (Haltung) als auch mit dem Kleinhirn verschaltet und haben direkten Einfluss auf die Muskeln, die für unsere Haltung zuständig sind, sowie auf die Integration aller Signale und die Koordination von Bewegungen. „Unspezifische“ Rückenschmerzen können bei schlechter Signalqualität schnell die Folge sein.
So viel zum Gleichgewicht und dem visuellen Sehen. Was ist mit dem propriozeptiven System?
Das propriozeptive System verarbeitet alle Daten, die von den Nerven-Endigungen im Körper kommen. Es gibt unserem Gehirn die Information, wie wir uns dreidimensional im Raum bewegen. Alle Daten aus den verschiedenen Nerven-Endigungen, die an der Bewegung beteiligt sind, werden zum Gehirn transportiert, analysiert, interpretiert und dann als Bewegungs-Output umgesetzt. Je bessere und genauere Informationen wir aus diesem System bekommen, desto bessere und klarere Informationen erhält unser Gehirn zur Verarbeitung und desto hochwertiger und effizienter kann es agieren.
Wenn zum Beispiel Gelenke im Fußwurzelbereich auf einer Seite blockiert sind, kommen aus diesem Bereich keine klaren Informationen mehr zum Gehirn. Bildlich gesprochen ist dieser Bereich ein „blinder Fleck“ für unser Gehirn. Das Gehirn braucht aber immer Sicherheit und Vorhersagbarkeit. Es kommt zu Schutzreflexen und die Muskelspannungen werden so verändert, dass die nichtkontrollierbare Struktur geschont wird. In der Folge werden die anderen, „klaren“ Strukturen mehr genutzt und die Bewegung läuft um den „blinden Fleck“ herum. Jedoch gehen und stehen wir den ganzen Tag auf den Füßen und müssen bei jedem Schritt das Zwei- bis Dreifache unseres Körpergewichtes auffangen und im Anschluss wieder verarbeiten. Diese Kompensationsstrukturen werden sehr hoch belastet und die Verletzungsgefahr ist enorm, besonders im Spitzensport. Die Konsequenz ist, dass das propriozeptive System wirklich als Basiselement für Athletiktraining gesehen werden muss.
Was passiert, wenn die Systeme nicht optimal arbeiten?
Wenn eine Information falsch, verzerrt oder zu spät im Gehirn ankommt, ist unsere Bewegung in diesem Moment für das Gehirn nicht vorhersehbar und kontrollierbar. Dann ergreift das Gehirn Schutzmaßnahmen, indem es etwa ein oder zwei Gänge zurückschaltet. Ist das Gefahrenlevel zu groß wird sich auch oft für Schmerz als Handlungsaufforderung entschieden. Selbstverständlich wird dadurch die Leistungsfähigkeit drastisch reduziert: die Bewegungsweite, die Kraft, die Reaktionsgeschwindigkeit. Denn aus Sicht des Gehirns besteht die Gefahr einer Verletzung.
Insofern haben die bewegungssteuernden Systeme in höchstem Maße mit unserer Leistungsfähigkeit zu tun. Je besser zum Beispiel das propriozeptives System ausgebildet ist, desto weniger Schutzreflexe (inkl. Schmerzen) nimmt der Körper vor. Infolgedessen arbeitet der Körper viel präziser und hat wesentlich mehr Kraft und Flexibilität. Unser Training führt zum einen zu einer verbesserten Signalqualität, und zum anderen zur gezielten Aktivierung der Hirnareale, die die Verarbeitung und Integration dieses Inputs im Gehirn gewährleisten. Auf die Performance eines Athleten bezogen folgt also ein verbesserter motorischer Output.
Ihr habt vom „Überleben“ und „Schutzreflexen“ gesprochen. Was hat es damit auf sich?
Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass unser Gehirn aus evolutionsbiologischer Sicht die Aufgabe hat, unser Überleben in der Umwelt zu sichern. Dafür muss es Gefahren für den Körper erkennen und uns auf diese aufmerksam machen. Unser Gehirn weiß nicht, ob wir gerade Sport treiben oder um unser Überleben kämpfen. Es bekommt Input, analysiert und wertet diesen aus und gibt dann einen Bewegungs- bzw. Handlungsoutput. Wenn wir dies auf ein Hochleistungstraining übertragen, sollten wir dafür Sorge tragen, dass sich unser Gehirn und Nervensystem in der Trainingsbelastung sicher fühlen und keine Gefahren aus der Umwelt oder aus dem eigenen Körper wahrgenommen werden. Werden aber die natürlichen Schutzmechanismen, wie beispielsweise Schmerzen, ignoriert oder gar ausgeschaltet – wie es manche Profivereine durch das sogenannte „Fitspritzen“ praktizieren –, kann das für den Körper gefährliche Folgen haben.
Unser Nervensystem funktioniert im Grunde wie eine Wache, die 24 Stunden, sieben Tage die Woche unsere internen Abläufe und Prozesse sowie unsere Umwelt genauestens beobachtet. Bei dieser Beobachtung bedient es sich aller Systeme im menschlichen Körper; zum Beispiel dem Sehen, Gleichgewicht, Hören, Riechen, Tasten, Bewegungsgefühl, Balance. Das ist wichtig, um ein permanentes Feedback aus dem Körperinneren und der Umgebung zu erhalten. Sämtliche Informationen laufen unentwegt durch einen „Bedrohungsfilter“. Wird keine Gefahr festgestellt, läuft alles ganz normal weiter. Wird allerdings eine reale oder potentielle Gefahr antizipiert, findet das Gehirn Mittel und Wege, uns auf diese Gefahr hinzuweisen. Dies äußert sich u.a. etwa durch Krafteinbußen, Bewegungseinschränkungen, diffuse Schmerzen, bewegungsinduzierte Verletzungen oder wiederkehrende Verletzungen. Kurz gesagt unsere Leistungsfähigkeit lässt nach. Um im Sport zu bleiben: Unser Nervensystem zieht bildlich gesprochen einfach bei Tempo 150 die Handbremse, um uns auf eine Gefahr, die z.B. durch unsere Bewegung im Training wahrgenommen wird, hinzuweisen.
Ihr arbeitet also vor allem daran, dass der Körper als Ganzes sensibler auf innere Reize und Umweltreize reagiert, damit er weniger anfällig für Verletzungen ist und gleichzeitig leistungsfähiger wird. Wie schafft ihr das?
Unsere Interventionsmaßnahmen beruhen im Allgemeinen auf sogenannten „Drills“; also Übungen, die die bewegungssteuernden Systeme betreffen und auftrainieren. Wir arbeiten sportartspezifisch größtenteils mit individuell ausgestalteten und auf das jeweilige „Neuro-Profil“ angepassten Augen-, Gleichgewichts- und spezifischen isolierten Gelenkkontrollübungen um die Qualität des Signalinputs zu verbessern. Diese Übungen werden allgemein ins Aufwärmen eingebaut und/oder als aktive Pausengestaltung genutzt und können recht allgemein gehalten oder auf das spezifische Anspruchsprofil des Trainings abgestimmt werden. Wurde etwa als schwächste Stelle bei einem Athleten ein Koordinationsdefizit auf der linken Seite festgestellt, d.h. sein linkes Kleinhirn braucht mehr Aktivität, so werden diesem Athleten verschiedene Kombinationen von Drills gegeben, die alle in der richtigen Dosierung das linke Kleinhirn aktivieren.
Meist wird ein starker Reiz vor einen kleineren und schwächeren Reiz geschaltet. In diesem Fall: Augen rechts stabilisieren, dann Kopfbewegungen nach links oder links oben oder rechts unten, gefolgt von nicht-linearen Bewegungen auf der linken Seite. Wichtig hierbei ist jedoch immer zu testen, was für welchen Athleten in welcher Dosis am besten wirkt. Daneben sollten die Drills noch ein bis dreimal über den Tag verteilt in Eigenregie vom Athleten gemacht werden, damit die hohe Belastung des Alltags nicht zu Einbußen in der Performance des Athleten führt. Denn im Gang muss pro Schritt das Zwei- bis Dreifache des Eigengewichts durch den Körper remoduliert werden.
Wie arbeitet ihr im Speziellen mit Fußballern?
Nachdem wir die bewegungssteuernden Aspekte angesteuert und optimiert haben, versuchen wir grundlegende Bewegungen zu verbessern, die für den individuellen Spieler wichtig sind. Das betrifft meist natürlich den Torschuss, aber auch positionelle Anforderungen oder die Verbesserung der spezifischen Wahrnehmung. Denn Schnelligkeit im Fußball korreliert nicht immer zwangsläufig mit der reinen Sprintleistung oder der Richtungswechsel-Beschleunigungszeit. Oftmals ist ein viel größeres Problem, dass der Athlet bestimmte Situationen langsamer wahrnimmt und deshalb später reagiert. Es gibt genug Beispiele von läuferisch nicht so schnellen Spielern, die in einer Spielsituation aber unglaubliche, situationsspezifische Schnelligkeitsleistung bringen. Um diese Schnelligkeit zu trainieren, gucken wir zunächst, wo es hinsichtlich der Wahrnehmung Defizite gibt. Eine schnelle Wahrnehmung und die Klarheit der Information aus ebendieser Wahrnehmung sind maßgeblich für den schnellen motorischen Output.
Worin liegt in diesem Bereich die Schwäche von biomechanischen Modellen?
Um überhaupt mit technischen Aspekten arbeiten zu können, legen wir zuerst die neuronalen Voraussetzungen für ein effizientes sportartspezifisches Techniktraining. Wir müssen bei jedweder Bewegung bedenken, dass jede Situation ein spezielles Anforderungsprofil hinsichtlich der motorischen Fertigkeiten an den Athleten stellt. Beweglichkeit, Kraft und Schnelligkeit sind immer körperpositions- und bewegungs- bzw. handlungsspezifisch. Um etwa eine optimale Handlungsschnelligkeit zu erlangen, muss der Athlet daraufhin überprüft werden, ob er den Anforderungen hier auch im vollen Maße Rechnung tragen kann. Ist der Athlet in der Lage, jedes Gelenk in jeder Schrittstellung bei jeder Oberkörperrotations-, Kopf- sowie Augenstellung in der optimalen Geschwindigkeit zu kontrollieren? Des Weiteren muss festgestellt werden, ob die technischen Vorraussetzungen situationsspezifisch vorhanden und vollends kontrollierbar sind. Meist ist dies nicht der Fall und wird auch so gut wie nie isoliert trainiert, obwohl diese Aspekte essenziell für eine gute Schnelligkeitsleistung sind.
Wenn bei einem Athleten außerhalb der reinen Sprintleistung Schnelligkeit beurteilt wird und diese verbessert werden soll, werden in der Regel klassisches Schnelligkeitstraining, Reaktionstraining oder Spielformen durchgeführt, die diese Fähigkeit trainieren sollen. In den meisten Fällen ist es jedoch suboptimal, damit zu starten. Denn eigentlich ist gerade in den Spielsportarten nicht derjenige der Schnellste, der sich am schnellsten bewegt, sondern derjenige, der sich als erster bewegt. Irritierend ist hier, dass es schnell aussieht aber eigentlich nur früher und effizienter stattfindet.
Wie geht ihr vor, wenn ein Spieler Defizite bei bestimmten Aktionen zeigt? Beispielsweise beim Torschuss?
Auch hier sehen wir uns zunächst das neuronale Anspruchsprofil hinter einem präzisen Schuss, unabhängig von der individuellen Schusstechnik, an. Um einen Schuss präzise platzieren zu können, bedarf es mehrerer Fertigkeiten. Zunächst muss die Entfernung bzw. die Tiefenmessung zum Objekt, unabhängig davon ob es sich bewegt oder nicht, ermittelt werden. Im Anschluss erfolgt die Ausführung selbst; der Schuss. Die Augen des Spielers müssen aus seiner Position ein Objekt verfolgen können. Sie müssen ggf. schnell von einer nahen in eine ferne Position springen oder umgekehrt und hierbei dem Gehirn jeweils klare Daten über Tiefe und Geschwindigkeit des Objekts liefern können. Oftmals vermittelt das eine Auge dem Gehirn jedoch etwas anderes als das andere Auge. Die Information eines Auges wird häufig regelrecht unterdrückt und schon sind die Tiefen- und die Geschwindigkeitswahrnehmung des Objekts reduziert. Das Gehirn kann quasi nur schätzen, wo sich das Objekt befindet. Der Bewegungsentwurf des Schusses im Gehirn ist somit nicht so exakt, wie er sein könnte.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Aufmerksamkeitslenkung auf den Bewegungsablauf des Schusses. In der Hierarchie der Bewegungssteuerung sind es die Augen, die hier die wichtigste Rolle spielen. Die meisten Spieler sind beim Schuss zu ziel- und zu wenig prozessorientiert. Sie wenden den Blick zu früh vom Ball hin zum Zielobjekt. Wendet sich jedoch der Blick weg vom Ball, muss das Gehirn quasi schätzen, wo der Ball genau ist und die Bewegung wird im entscheidenden letzten Abschnitt Blind ausgeführt. Die Wahrscheinlichkeit, den Ball optimal zu treffen, sinkt deutlich. Dadurch kommt etwa die Flanke oder der Abschluss nicht so präzise, wie er kommen könnte.
Unser Ziel ist es, dem Athleten zu vermitteln, länger prozess- und handlungsorientiert zu bleiben, um so die Qualität der Bewegungsausführung zu optimieren. Ihm sollte vermittelt werden, wie es sich anfühlt, den Ball genau zu sehen und den Blick länger auf dem Ball zu halten, bis der Fuß den Ball trifft. Verbessert sich diese Fertigkeit, erhöht sich die Schusspräzision meist sehr deutlich.
Ihr habt von der Orientierung im Raum gesprochen, was ja in Verbindung mit dem visuellen System gerade in engen und druckvollen Situationen für den Fußball von großer Bedeutung ist. Könnt ihr auch das Verhalten eines Spielers im Raum beeinflussen?
Wenn ein „gelernter“ oder „intuitiver“ Rechtsverteidiger auf einmal auf links spielen muss, bedeutet das für das Gleichgewichtssystem, das visuelle System und das propriozeptive System des Athleten große Umstellungen. Die Systeme müssen nun meist in den komplett anderen Raum drehen. Das Zweikampfverhalten, die Spieleröffnung kurz gesagt die gesamte Bewegungssteuerung ist anders. Oftmals ist es so, dass die Spieler an den Positionen gut spielen, wo das Gleichgewichtssystem und das visuelle System positionsspezifisch gut funktionieren und der Raum, in den hineingelaufen wird, sehr gut unter „Kontrolle“ ist. Testet man in der Praxis nun diese Systeme, werden hier meist sehr gute Reaktionen gefunden. Hier ist es nun wichtig zu wissen, dass die bewegungssteuernden Systeme nicht dadurch gut funktionieren, dass diese auch im Training mehr trainiert werden. Der Spieler geht intuitiv auf die Seite, wo seine Bewegung den Anforderungen besser Rechnung tragen kann.
Dass die Systeme auf der einen Seite besser funktionieren als auf der anderen hat aber weniger mit reiner Gewohnheit zu tun, sondern ist im Laufe des Lebens, durch Krankheiten, Verletzungen etc. entstanden. Wird ein Außenspieler auf einmal in die Mitte umgestellt oder gar auf die andere Seite, muss er jetzt auf der Position spielen, wo sein Gleichgewicht und/oder sein visuelles System für das Anforderungsprofil dieser Position schlechter funktionieren bzw. wo das Anforderungsprofil der neuen Position nicht auf sein neuronales Profil passt. Das heißt, dass Wahrnehmung, Bewegungspräzision, Koordination, Kraft und Schnelligkeit hier reduziert sind. Im Prinzip ist die Performance insgesamt runtergefahren, weil das Gleichgewichtssystem und die Augen des Spielers den Raum und die Bewegung im Raum nicht so gut kontrollieren können. Dadurch verliert der Spieler Geschwindigkeit bei der Drehbewegung in den neuen Raum und wird erst wieder schnell und sicher in seiner Performance, wenn das Gleichgewichtssystem und das visuelle System wieder durch eine zentrierte Kopfposition justiert sind.
Dies hat natürlich auch Auswirkungen auf die technisch-taktischen Aktionen, wie die Ballannahme oder die Schuss- und Passpräzision sowie das Zweikampfverhalten. Es sind also nicht nur die Füßigkeit, sondern auch die bewegungssteuernden Strukturen für die Performance auf dieser Position verantwortlich. Hier kann man sehr gute Resultate erzielen, wenn das Gleichgewichtsystem mit den Augen anforderungsspezifisch „auftrainiert“ wird. Trainiert man hier also zuerst die Grundlagen, gelingen die technisch-taktischen Umstellungen schneller und effizienter.
Vielen Dank für das Gespräch.