Im Jahr 2001 startete die UEFA eine Elite Club Injury Study, welche vom Vizepräsidenten des Medizinischen Komitees, Jan Ekstrand, geleitet wird. Das Ziel war von vornherein klar definiert: Der Kontinentalverband möchte die Anzahl und Schwere an Verletzungen reduzieren. Mittlerweile hat man über eine Million Trainingseinheiten und Spiele ausgewertet, Verletzungen per Datenbank erfasst und so einen großen Pool an Informationen angesammelt. 75 Klubs aus 18 Ländern waren dabei behilflich. Die Ergebnisse selbst sind aber aus datenschutztechnischen Gründen für die Öffentlichkeit nicht einsehbar. Schade.
Denn Ekstrand sagt deutlich: “Unsere Daten zeigen sehr klar”, welche Trainer mit hohen Verletztenquoten zu kämpfen hätten. Die Bundesliga würde derweil vorbildlich arbeiten, wenn es darum ging, den Spielern genügend Zeit zur Rehabilitation zu geben.
Das klingt plausibel, hat man doch top-ausgebildete Trainer und Fachpersonal in der Bundesliga zur Verfügung. Mit Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt war sogar ein wahrer Guru über Jahrzehnte hinweg beim deutschen Rekordmeister Bayern München beschäftigt – bis zum Zerwürfnis vor wenigen Monaten.
Denn es trat zuletzt auch Fragwürdiges ans Licht. Als bei Holger Badstuber in der Rückrunde ein Muskelriss im linken Oberschenkel diagnostiziert wurde, verwunderte das zunächst. Denn im Spiel gegen den FC Porto am 21. April hatte er noch die kompletten neunzig Minuten durchgespielt. Erst am Abend des 23. April wurde aber die Diagnose öffentlich. Beim Auslaufen am Mittwochmorgen – das Spiel gegen Porto war am vorherigen Abend – nahm Badstuber locker am Training teil. “Badstuber hat also augenscheinlich die Schmerzen sehr lange nicht in dem gewöhnlichen Ausmaß verspürt”, spekulierte danach der kicker. “Weil er zuvor Spritzen bekam? Das Verabreichen von Schmerzmitteln gehört bei Bayern, wie anderen Klubs, zum Repertoire.”
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Schweres Leben als Profifußballer: Franck Ribérys Verletzungen in den vergangenen Jahren. Verletzungen im Sprunggelenk oder Muskelverhärtungen traten mehrfach auf. (Bild von Ribéry: Football.ua [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons)
Found this online, comparing injury histories across top European teams. Draw your own (objective) conclusions. pic.twitter.com/QImluhE6IW
— Cristian Nyari (@Cnyari) April 19, 2015
Dortmunds Sportdirektor Micheal Zorc hatte zudem vor einiger Zeit ganz andere Angaben parat. “Eine Langzeitstudie der UEFA zeigt, alle deutschen Mannschaften, die international vertreten sind, haben im Vergleich deutlich mehr Verletzungen als die europäische Konkurrenz zu beklagen”, so Zorc gegenüber dem kicker.
Weiter schreibt das Magazin selbst: “Bei vielen Klubs fehlt es an einfachsten wissenschaftlichen Standards, dazu an Personal.” Eben für jenen Ekstrand “sind das allergrößte Problem in der Vorsorge von Verletzungen noch nicht einmal fehlende Mittel, sondern fehlende interne Kommunikation.” Ärzte, Athletiktrainer, Physiotherapeuten würden kaum gehört.
“Die Mehrheit der Superstars denke, es hängt mit purem Pech zusammen”, sagt Stephen Smith. Er ist CEO von Kitman Labs, die sich auf die statistische Evaluierung von Profiathleten spezialisiert haben. Gegenüber Wired gab er an, dass er einen Trend über alle Sportarten hinweg ausgemacht habe: Es gäbe große Unterschiede zwischen jenen Teams, die aufgrund von Verletzungen viel Geld verlieren, und jenen, die wenig verlieren – was für ihn klar den Schluss zuließe, dass es nichts mit Glück zu tun hätte. Smiths Unternehmen habe in einem dreijährigen Versuch mit den MLB-Teams San Francisco Giants und LA Dodgers dem jeweiligen Trainerteam simpel aufbereitet eine große Anzahl an Daten zum Zustand der Spieler zur Verfügung gestellt. Kitman Labs “macht es möglich, dass der Trainer sein Mobiltelefon aus der Tasche zieht und sieht, welche Spieler mit Risiko spielen.”
Zumindest wird mittlerweile das Problem – auch im Fußball – wahrgenommen und nicht mehr nur mit “Pech” oder etwaigen “höheren Mächten” abgetan. Denn die Bundesliga im Speziellen hat ein Problem. “Ja, wir haben zu viele Muskelverletzungen”, gab Horst Heldt im Interview mit Bild vor Beginn der letzten Saison zu. Geändert hatte sich daraufhin insbesondere bei Schalke nichts. Andere Vereine hingegen stehen geradezu vorbildlich da, vergleicht man sie mit den Ligakonkurrenten.
Spielverlagerung möchte das Thema Verletzungen nicht außen vor lassen und widmet sich deshalb mit einer eigenen Serie der Problematik. Zunächst stellen wir in aller Kürze die statistischen Gegebenheiten der vergangenen Jahre dar. Dazu greifen wir dankenswerterweise auf die Erhebungen der Seite Fußballverletzungen zurück, die uns zur Verfügung gestellt werden und die Saisons von 2011/12 bis 2014/15 enthalten. Daran anschließend möchten wir gewisse Ursachen aufzeigen und zum Beispiel etwaige Verbesserungsmöglichkeiten hinsichtlich der Trainingsteuerung aufzeigen.
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Entwicklung der Ausfalltage gesamt (links) und pro Kaderspieler (rechts) in der Bundesliga
Eine erste Feststellung dürfte überraschen. Die Verletztenraten haben sich in den letzten Jahren nicht negativ entwickelt. Die abgelaufene Spielzeit war sogar im Vergleich zu 2011/12 von niedrigeren Ausfallquoten geprägt. Damals waren es 45,06 Ausfalltage pro Kaderspieler. Drei Jahre später sind es nur noch 41,46. Im Zuge dessen haben sich allerdings einige Verletzungshochburgen wie Werder Bremen, der Hamburger SV, Schalke 04 oder Borussia Dortmund entwickelt. Eine Mannschaft wie der SC Freiburg, die unter Christian Streich in erster Linie von der enormen Spielintensität lebt, hat damit weniger Probleme, während Gladbach beziehungsweise insbesondere Lucien Favre schon lange ein Sonderlob verdienen.
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Ausfalltage pro Kaderspieler in den letzten vier Bundesligasaisons
Zur differenzierteren Betrachtungsweise sollten allerdings Verletzungstypen klassifiziert werden. Schließlich können Bänderrisse unterschiedliche Ursachen haben. “Angestaute Erschöpfung aufgrund ungenügender Erholung verlangsamt das Nervensystem. Das Signal vom Gehirn zum Muskel wird langsamer”, sagte Fitness-Guru Raymond Verheijen vor einiger Zeit gegenüber The Guardian. “Wenn das Signal vom Gehirn später beim Muskel ankommt, bedeutet das, das Gehirn hat weniger Kontrolle über den Körper bei explosiven Aktionen im Fußball. Es gibt also genügend Beweise, dass unzureichende Erholung, angesammelte Erschöpfung und ein langsameres Nervensystem das Verletzungsrisiko dramatisch ansteigen lassen.”
Gründe für einen Bänderriss und ähnlich geartete Verletzungen können somit alleinig im Impuls des Gegenspielers liegen oder im Zusammenspiel mit der Erschöpfung des verletzten Spielers verursacht werden. Doch genauso können ungünstige Platzverhältnisse eine Rolle spielen. Ergo, es gibt nicht den einzig wahren Grund, aber zur Vorbeugung ist ein entsprechendes Kräftemanagement vonnöten.
Ursachen für Muskelverletzungen hingegen sind besser einzugrenzen, weshalb auch einzelne Statistiken, die wir ausgewertet haben, nochmal unter diesem Gesichtspunkt unterteilt wurden. Probleme an verschiedenen Muskelpartien, was im Fußball oftmals Faserrisse, Verhärtungen und ähnliches bedeuten, wurden so entsprechend herausgefiltert.
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Die Saison 2014/15 unter dem Gesichtspunkt der muskulären Verletzungen.
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Der Anteil an Muskelverletzungen blieb ungefähr gleich: Links ist die Saison 2011/12 mit 24,38 Prozent, rechts die letzte Spielzeit mit 24,58 Prozent.
Die deutschen Spitzenteams Bayern München und Borussia Dortmund hatten zuletzt mit zahlreichen Ausfällen zu kämpfen. Beim BVB zeichnet sich dieser Trend schon seit geraumer Zeit ab. Seit dem Weggang von Athletiktrainer Oliver Bartlett im Jahr 2012 nahm die Negativentwicklung ihren Lauf. Dieser arbeitet mittlerweile für Roger Schmidt und war in den letzten knapp zwölf Monaten für Bayer Leverkusen tätig.
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Radikale Pressingmaschine: Ausfalltage bei Bayer Leverkusen in den letzten vier Jahren
In der abgelaufenen Saison war die Anzahl an Ausfalltagen beim BVB sogar zurückgegangen. Die Anzahl an Muskelverletzungen allerdings gestiegen. Ligaprimus Bayern geriet in jüngerer Vergangenheit nicht nur durch den Disput zwischen Mannschaftsarzt und Cheftrainer in die Schlagzeilen, sondern auch wegen diverser Verletztengeschichten. Neben der bereits angesprochenen Misere um Holger Badstuber musste Arjen Robben zum Beispiel nach einem Kurz-Comeback gegen Borussia Dortmund seine Saison beenden. Die Odyssee um Thiago Alcântara wurde von einer angeblichen Behandlung mit Cortison oder Wachstumsfaktoren begleitet.
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Ausfalltage insgesamt und Ausfalltage aufgrund von Muskelverletzungen in den letzten vier Spielzeiten
Verletzungen sind nicht nur Schicksalsschläge für Fußballer, die dadurch in ihrer Entwicklung zurückgeworfen werden und statt sich auf der großen Bühne präsentierten und brillieren zu können eher in der Reha anzutreffen sind. Doch Verletzungen spielen genauso eine ökonomische Rolle für die Klubs, wenn ihre Investments nicht zum Einsatz kommen. Zudem haben gerade viele Bundesligaspieler “individualvertragliche Vereinbarungen mit ihrem Verein darüber, dass die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nicht die üblichen sechs Wochen, sondern deutlich länger dauert”, schreibt die Süddeutsche Zeitung.
Zudem ergab eine Studie, die vom Lehrstuhl für Sportmedizin der Ruhr-Universität Bochum gemeinsam mit der Verwaltungsberufsgenossenschaft und den Spitzenverbänden im Fußball seit Anfang der 1990er-Jahre in regelmäßigen Abständen durchgeführt wurde: “Die Kosten für Verletzungen im Profifußball summieren sich, Behandlungskosten und Personalkosten zusammengefasst, auf etwa 90 Millionen Euro pro Saison. Der Gesamtumsatz der drei ersten Ligen beträgt circa zwei Milliarden Euro pro Saison.” Weiter heißt es, dass Knieverletzungen als gravierendste Verletzungen Kosten in Höhe von 33 Millionen Euro, also 37 Prozent der Kosten verursachen. Verletzungen an den Sprunggelenken mit 14 Millionen und Oberschenkelverletzungen mit zehn Millionen Euro folgen auf den nächsten Plätzen. Eine Grafik der Bundeszentrale für Politische Bildung findet man hier.
Unter welchem Trainer gibt es die meisten Verletzungen? https://t.co/kaiFTGMl8Q #Bundesliga #dataviz #FCB #BVB pic.twitter.com/woDbEktkz7
— Fußballverletzungen (@fbinjuries) June 30, 2015
Das Ausmaß lässt sich nicht wegdiskutieren. Und dass bestimmte Trainerteams beziehungsweise Klubs über einen längeren Zeitraum höhere Quoten aufweisen als andere, muss zu denken geben, ob hier nicht Präventionsmaßnahmen und Belastungssteuerungen versagt haben oder gar keine wirkliche Anwendung fanden. Dazu mehr im nächsten Artikel…
Der Dank gilt nochmals Fabian Siegel von der Seite Fußballverletzungen.
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