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Rezension: Fitness in Soccer

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Das Buch Fitness in Soccer ist womöglich eines der interessantesten Trainingsbücher aktuell auf dem Markt. Dabei unterscheidet sich enorm von den meisten der Bücher, insbesondere im deutschen Sprachraum. Die Verfasser fokussieren sich nämlich auf eine sehr grundlegende und evidenzbasierte Methodik, anstatt Trainingsübungen ohne Hintergrundwissen in ein Buch zu stopfen (den eleganten Mittelweg geht hierzulande in letzter Zeit übrigens Martin Hasenpflug mit seiner Mischung aus Büchern, kleinen Erklärungen und weiterführenden Infos auf seiner Webseite).

Sehr komplexes und wissenschaftliches Werk

Das Buch vereint eine enorme Expertise auf knapp unter 400 Seiten. Hierbei ist löblich, dass von vielen unterschiedlichen Autoren spezielle Inhalte stammen. Die sechs Hauptautoren sind van Winckel, Helsen, McMillan, Tenney, Meert und Bradley. Sie konzentrieren sich weitestgehend auf die Trainingswissenschaft, welche natürlich den Großteil des Buches darstellt. Die insgesamt 22 Gastautoren unterstützen das Buch mit Expertise zu einzelnen Themen wie beispielsweise der taktischen Periodisierung.

Die Sprache ist allerdings dennoch öfters schwierige Kost. Es liest sich wie eine Sammlung von unterschiedlichsten Erkenntnissen und Studien zu den einzelnen Themen. Dadurch wiederholt sich auch einiges und nicht alle Themen sind für den 08/15-Trainer relevant. So sind beispielsweise die Kapitel 8-10 fast nur für höhere Leistungsklassen anwendbar, weil dort vorrangig die Messung von Herzraten und unterschiedlichen Erschöpfungsindikatoren sowie sonstigen weiteren Tests beschrieben wird.

Andererseits bietet das Buch auch eine tolle Einführung in grundlegende Punkte  der Sport-, Trainings- und Bewegungswissenschaften. Die Autoren besprechen zum Beispiel das Konzept der Superkompensation sehr interessant. So wird es als interessantes theoretisches Modell beschrieben, welches aber vom zweidimensionalen Fitness-Fatigue-Model abgelöst wird. In einigen wenigen Seiten wird das Modell dann kurz, kompakt und verständlich erklärt, ebenso wie das noch unbewiesene Performance-Potential-Model.

Dazu werden in den Artikeln immer wieder unterschiedliche interessante Konzepte eingebaut, wie beispielsweise ein Lauftraining unter Wasser zur Regeneration oder Rehabilitation. Generell entspricht das Buch dem aktuellsten Stand der Wissenschaft. Das differentielle Lernen wird zum Beispiel nicht wörtlich erwähnt, aber die relevanten Aspekte zu den positiven Effekten von einem variablen Training werden mithilfe unterschiedlicher Studien adäquat ausgeführt.

Dies trifft auch auf andere Aspekte zu, wodurch sich enorm vielfältige und komplette Anwendungsmöglichkeiten ergeben.

Moderne Trainingsphilosophie mit Altbewährtem

Die meisten Trainingsbücher heutzutage beschäftigen sich entweder unwissenschaftlich und bilden einzelne Übungen ab, während viele andere sich eher unsachlich und nicht fußballspezifisch über die wissenschaftliche Methodik der physischen Aspekte auslassen. Auch wenn Fitness in Soccer kaum über Taktik und nur wenig über Psychologie oder Didaktik berichtet wird, so ist das wissenschaftliche Fundament zur Bewegungs-, Trainings- und Sportwissenschaft enorm weitreichend. Sogar Aspekte wie Ernährung werden abgedeckt, dazu kommen zahlreiche unterschiedliche Studien zur Physis.

Cover des Buches

Cover des Buches

Diese sind auch in fast allen Belangen modern. Die dargestellten Spielformen sind meist gut gewählt und es gibt sehr interessante und weitreichende Ausführungen zu Kleingruppenspielen, wieso wie was variiert werden kann. Besonders aufschlussreich: Es gibt Studien, die anzeigen, dass das Antreiben vom Coach mit den höchsten Effekt auf den Pulsschlag und die Spielintensität hat. Selbst in guten Büchern fehlt es häufig an diesen Aspekten. Auch die unterschiedlichen Variationsmöglichkeiten und ihre Auswirkung werden sehr gut beschrieben.

Jedoch sprechen sich die Autoren auch für zwei Trainingseinheiten an einem Tag, eine eher kritisch zu beobachtende Periodisierung bei Makrozyklen in einer englischen Woche und einzelne isolierte Trainingsübungen. Zu ersterem fehlt es an einer Erklärung, auch wenn erwähnt wird, dass man diese sehr genau planen und in puncto Erholungspausen präzise umsetzen kann. Bei Zweitem scheint schlichtweg im Vergleich zum aktuellen Stand der Wissenschaft ein Fehler vorzuliegen.

Letzteres wird allerdings sauber argumentiert. So werden bei unspezifischen Kraftübungen durch einzelne Trainingsübungen Transmutationseffekte erzeugt und bei den funktionalen Kraftübungen am Ende des Buchs wird ausgeführt, welche Übungen im Fitnessraum für Fußballer wirklich effektiv sind. Die isolierten Übungen werden außerdem aus durchaus passenden Gründen empfohlen.

So führen die Autoren zum Beispiel aus, dass aerobe Fitness oft im Saisonverlauf nicht mehr trainiert und generell unterschätzt wird. Studien zeigen nach Fitness in Soccer aber, dass die Vorteile der aeroben Fitness (schnellere Erholungsrate, Veränderung im Stoffwechsel bei Fettverbrennung) sich auch auf die intensiven, anaeroben Aspekte auswirken.

Mit dieser Begründung sind die einzelnen gegnerdrucklose Passformen als Endlosformen durchaus zu akzeptieren. Beim intensiven Training wird wiederum auf Kleingruppenspiele mit Intervallmethodik zurückgegriffen, was auch dem modernen Stand der Wissenschaft entspricht.

Die gegnerdrucklosen Übungen sind jedoch keineswegs schlecht konzipiert. Der sogenannte Hoff Track ist zum Beispiel ein durchaus interessanter Dribblingparcours, der vier Mal in einem Intervall von 3-8 Minuten wiederholt werden soll. Bei Umsetzung mit hoher Herzrate steigert es die Sauerstoffkapazität in zehn Wochen um 10%; solche Übungen mit weniger ungeplanten, abrupten Drehungen werden empfohlen, um die Verletzungsgefahr gering zu halten und dienen zur Ergänzung der Kleingruppenspiele.

Auch der Fokus auf isolierte SAQ-Übungen (Speed, Agility, Quickness) in jeder nicht-regenerativen Trainingseinheit ist zwar kritisch zu bewerten, wird aber sehr kompetent und nachvollziehbar begründet.

Fazit: Ein Buch für Fitnesstrainer statt Coaches

In gewisser Weise ist das Buch schon fast zu viel für einen regulären Coach. Die Informationen sind sehr detailliert, komplex und wissenschaftlich angehaucht. Für eher ambitionslose Trainer in niederen Klassen oder an der Thematik komplett desinteressierten Coaches dürfte es wohl weniger interessant sein. Durch diese enorme Fülle an Inhalt ist es eigentlich eher für Fitnesstrainer und den Hochleistungssport konzipiert. Jedoch können durchaus Trainer aller Ebenen relevante und in der Praxis außerordentlich nützliche Informationen aus dem Buch ziehen, wenn sie sich mit der Thematik auseinandersetzen.

Das Buch ist auch ein interessanter Gegensatz zu Verheijens The Original Guide to Football Periodisation. Verheijen verweist kaum auf empirische Evidenz, die er zwar einbaut, aber eben nicht explizit zitiert. Stattdessen stellt er eine neue Herangehensweise, eine komplett neue Struktur (z.B. seine Fußballfitness) und einzelne interessante Ideen vor, die er Fitness in Soccer voraushat. Letztere sind aber deutlich ausschweifender, informativer und detaillierter.

Beiden Büchern mangelt es aber an taktisch-strategischen, psychologischen und didaktischen Informationen, die nur punktuell integriert wurden. Insgesamt ist Fitness in Soccer  aber überaus empfehlenswert und womöglich das beste Buch für alle, die sich speziell in Sport- und Trainingswissenschaft mithilfe neuester wissenschaftlicher Evidenz weiterbilden möchten.


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